Sommer 2007

Das Treffen in der Stadt war schön. Ich schlendere heim. Er möchte mich nach Hause begleiten, in Rio tut man das so. Leicht amüsiert und misstrauisch lasse ich ihn mitgehen, ich kenne ihn schon zu gut. Er hat schöne schwarze Augen, vor allem Humor, subtil und leicht. Hmmm, ich mag ihn. Vor der Haustüre ist er kaum abzuweisen, die einzige Lösung scheint, ihn mit sanfter Gewalt zur Bushaltestelle zu schieben. So denn, auf dem Weg protestiert er natürlich, heftig gestikulierend, er möchte nicht nach Hause. Die Sache macht mir Spass. Die Wartezeit für den Bus beträgt zehn Minuten. Mitten auf einer der Hauptverkehrsstraßen, auf der Verkehrsinsel, drückt er mich an das Metallgeländer der Bushaltestelle, und wir küssen uns. Mmmmmhhhh, er küsst guuuuut. Zehn Minuten später, es ist ein Uhr nachts, verfrachte ich den lamentierenden Brasilianer in den Bus und gehe zurück in meine Wohnung. Gewohnheitsmäßig schalte ich mein Laptop an für die letzten ruhigen Minuten des Abends. ICQ blinkt auf.
Ein Freund: „Sag mal, wen hast du denn da gerade mitten auf der Straße geküsst?“

Woher er das wußte? Er stand zufällig auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hat uns zugeguckt. An diesem Tag habe ich gelernt, was es heißt, in einer Kleinstadt zu leben.

"Nichts, komm doch vorbei."

Er kommt und macht es sich im Schneidersitz auf dem Küchenstuhl gemütlich. Lustiger Anblick, so ein schlanker großgewachsener Inder thronend auf meinem kleinen Stühlchen.
"Heute hat mich mein Chef gefeuert."
"Oh. Bis wann arbeitest du noch?"
"Bis Freitag."
"???"
"Mein Chef darf das eigentlich so kurzfristig nicht machen. Falls ich keine Entschädigung bekomme, leite ich juristische Schritte ein. Bisher wurde ich für eine Teilzeitstelle bezahlt und musste Vollzeit arbeiten."
"..."
"Meinen Eltern kann ich das nicht erzählen. Mein Vater ist schwer krank. Sie wissen es also nicht. Außerdem muss ich in Indien einen Kredit abbezahlen, mit 10% Zinsen... Ich bin heute traurig."

Die volle Ladung. Für Ausländer ist die Arbeitssuche nochmal schwerer glaub ich. Und jetzt fällt es mir schwer, die passenden Worte zu finden. Ich bin auch traurig. Aber mich innerlich ganz darauf einlassen will ich nicht. Dazu ist es zu schlimm.

In meinem Badezimmer habe ich heute morgen ein paar schwarze Haare zusammengekehrt. Der Teppich ist schmutziger als gewöhnlich, und ein Hauch von Aftershave schwebt in der dicken warmen Luft. Ein paar Mandarinen mehr in der Schüssel auf dem Tisch, eine Matratze weniger in meinem Schlafzimmer. Meine Reservedecke riecht. Dieser Mensch hatte den stärksten (sauberen) Eigengeruch, den ich je wahrgenommen habe. Sogar, bevor er bei mir wohnte, kannte ich seinen Geruch. Den Weg zu meinem Bad kann ich wieder nackt zurücklegen, wenn ich will. Wenn ich will... Spuren in meinem Kopf. Monologe, bei denen ganz selbstverständlich davon ausgegangen wurde, dass ich zuhörte. Mann, dacht ich mir. Über die Entstehung der Erde, das Planetensystem, physikalische Gesetze. Schön war das.

- Arbeit ist eine Wohltat, wenn sie interessant ist und nicht stresst. Arbeit mit Literatur ist toll.
- Im Moment esse ich viel. Schokolade hat wirklich eine sofortige Auswirkung auf die Laune.
- Auf dem Fragebogen des Auswärtigen Amtes zur Selbsteinschätzung kann ich bei "Ich bin bereit, alle 3 - 4 Jahre meine Tätigkeit und meinen Wohnort zu wechseln." nicht "Ja" ankreuzen. Egal, wie lange ich darüber brüte. Ist wohl keine Option für mich.
- Meine fertigen Bewerbungsbilder abgeholt. Der Fotograf, uiuiui, sieht wirklich nett aus und ist auch nett. Die Bilder sehen auch nett aus :-)
- Im Moment ist mir oft kalt.
- Meine Oma hat mir eine E-Mail mit Bildern geschickt. So was nettes!
- In einem Gespräch, das ich überhört habe, glaube ich verstanden zu haben, dass meine Chefin seit 1993 keine Beziehung mehr hatte. Muss ich missverstanden haben.
- War bei der Diskussionsrunde "Rechtsradikalismus in der Region". Da treiben sich ja seltsame Vögel herum. Viele Vernünftige, aber auch welche, von denen man vermuten könnte, dass sie sich gerne prügeln. Mit extrem Rechten kann ich mich schlecht austauschen, mit extrem Linken aber geht es aber auch nicht.
- Wenn zwei Personen in meiner winzigen Wohnung leben, muss ich bestimmt dreimal soviel lüften wie Normalerweise.

Freitag auf Samstag
Besuch des Müncheners
Mitternacht. Von der Matratze am anderen Ende des Zimmers ertönt "Rrrrrrrr... Rrrrrrr... RrrRRRRRRRRrrrrrrrr... Rrrrrrrrrr"
Ich liege wach.

Montag auf Dienstag
Besuch des Spaniers
Ich hoffe, er schnarcht nicht.
Mitternacht. Von der Matratze am anderen Ende des Zimmers ertönt "Blablablablablablablablablablabla" in nicht zu vernachlässigender Lautstärke. "Blablablalblabla" Ein Uhr. "Blablablablablabla" Zwei Uhr. Noch immer dasselbe Thema. Wie konnte ich das vergessen. Natürlich, ein Spanier.
Ich liege wach.

Er: "Sagen die hier auch 'Grüß Gott'?"
Ich: "Neeee, das gibt's hier gar nicht!"

Im Geschäft
Er: "Grüß Gott!"
Verkäuferin: "Grüß Gott!"
Er zu mir: "Die ist aber anpassungsfähig."

Im Restaurant
Kellner: "Guten Tag!"
Er: "Grüß Gott! ... Hach Mist, schon wieder."
Ich muss lachen.

Mein Münchener Besuch und ich schauen uns das Stück einer studentischen Theatergruppe an. Er kauft sich eine Eintrittskarte für 4 Euro:
Mein Gast [hält 100 Euro-Schein hin]: Öh... Geht das auch so?
1. Student: Äh, ja.
2. Student: Ooooooh, so einen hab ich ja noch nie gesehen!
1. Student: Stimmt. Grün. Ich wußte gar nicht, dass die die drucken.
2. Student [beugt sich über den Thresen]: Ich hab jetzt eine lustige Frage an sie: voller Preis oder ermäßigt?
Gast: Ermäßigt.

Später
Mein Gast flüstert mir zu: Ein Glück, dass ich den 500er bei der Bank eingewechselt hab. (Dass es 500er gibt, wusste ich nicht.)

Da simmer wieder. Zu Hause. Nach ungefähr einem Monat Abwesenheit. Bei meinen Eltern war es sehr schön. Ich mag meine Wohnung aber auch. Hoffentlich kommen die Schlafstörungen nicht zurück.
Morgen hab ich eine Prüfung weniger... Gähn. Oh ja MEIN Bett mit der tollen Matratze. Ein bisschen traurig ist mein Bauch doch über die jetzt fehlende Gesellschaft. Na egal, dann kuschelt heute mein Lieblingskuschelplüschtier mit mir. Wir leisten uns schon Gesellschaft...

Nach nochmaligem Lesen beschließe ich, dass sich Selbstmitleid zwar ganz gut anfühlt, sich aber unschön liest.

Ich bin ein Kind der Postmoderne! Zumindest des postmodernen Romans. Total im Zeichen meiner Zeit! In der Wikipedia wird es so zitiert:

"auf die einmalig geprägte Einzelpersönlichkeit ... in einer … Welt, in der nach Verlust der alten Ordnungen und Geborgenheiten die Problematik, Zwiespältigkeit, Gefahr und die ständigen Entscheidungsfragen des Daseins an sie herantreten und die ewige Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit..." Gero von Wilpert

Dieses orientierungslose Schwimmen im Dasein... Es gibt ein Wort dafür.

So viel Besuch. Unglaublich. Wenn man nur oft genug seine Wohnung als Absteige anbietet, dann wird sie auch irgenwann als solche in Anspruch genommen. Ergebnis: Freitag bis Sonntag Besuch aus München, Montag bis ... (2 Wochen) Besuch aus Valencia. Ob das wohl reibungslos abläuft? Ich freu mich aber total!!!!!